Corona / Einige persönliche Gedanken

Covid-19, ein Virus weder sicht- noch greifbar, entfaltete eine ungeheure Wirkung. Die Regierungen fast der gesamten Welt fuhren das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben als Reaktion auf die Verbreitung dieses Virus herunter. Damit nahm der weitere Verlauf dieses Jahres plötzlich eine unerwartete Wendung.

Corona – Krise und Chance

Anfang des Jahres war mein Terminkalender für das gesamte Jahr schon sehr gut gefüllt. Das „Rennen“ für dieses Jahr lief schon richtig gut, als wir plötzlich alle unfreiwillig ausgebremst wurden. Covid-19, ein Virus weder sicht- noch greifbar, entfaltete eine ungeheure Wirkung. Die Regierungen fast der gesamten Welt fuhren das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben als Reaktion auf die Verbreitung dieses Virus herunter.

Mir fiel für diese Situation sofort der Begriff „unfreiwilliger Boxenstopp“ ein, weil ich in den letzten Jahren immer einen Newsletter geschrieben habe zum Thema „Boxenstopp – Bilanz ziehen in der Mitte des Jahres“. Diesmal geht es aber nicht nur um einen persönlichen Boxenstopp, diesmal ist alles ganz anders: Das ganze Rennen wurde abgesagt, sowohl für die Rennfahrer als auch für das Publikum. Es gab keinen normalen Alltag mehr in Familie, Schule, Beruf und Gesellschaft. Es ist uns wohl allen bewusst, dass es sich nicht nur um einen kurzen Boxenstopp handelt, wir stehen erst am Beginn einer längeren schwierigen Phase ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklung. Für uns alle wird die Corona-Krise unmittelbare Auswirkungen auf unser Leben haben.

„Gerät die Welt aus den Fugen, halte inne!“
Weisheit des TAO

Krisen sind überhaupt nicht außergewöhnlich, unser Leben ist immer von Krisen begleitet, persönlichen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen. Wir kennen Beziehungs-, Ehe- oder Familienkrisen und persönliche Krisen wie Depressionen, den Burnout oder die Midlife-Crisis. Auffallend ist, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Krisen häufen: Wir haben die Flüchtlingskrise, die Banken- und Finanzkrise, die Staatsschulden- und Eurokrise, die Krise des Sozialstaats, die demographische Krise oder die zuletzt medienbeherrschende Klimakrise erlebt. Die Liste ließ sich beliebig fortsetzen.

Wir scheinen in einem Kraftfeld zu leben, in dem es regelmäßig zu mehr- oder weniger schweren Krisen kommt. Weltweite politische, wirtschaftliche und geistige Krisen sind längst der Normalfall geworden. Das gab es in bestimmten Phasen in der Geschichte der Menschheit immer wieder, stets waren die Dauerkrisen dann die Geburtswehen einer neuen Zeit.

Wir hätten es gerne anders, aber es gibt keine krisenfreie Entwicklung., weder im privaten noch immer gesellschaftlichen Bereich. „Das einzig Sichere ist die Unsicherheit und das einzig Beständige die Unbeständigkeit.“ Diese Aussage finden wir so oder ähnlich in allen spirituellen Traditionen der Welt. Das Einzige, was gewiss ist, ist, dass nichts gewiss ist. Das wird uns zurzeit wieder einmal besonders bewusst. Eine Virus-Krise hat uns alle im Griff, durchkreuzt alle Pläne, alle Sicherheiten und zeigt uns, wie zerbrechlich unser Leben ist.

Seit vielen Jahren glaubt die Welt an die „Silicon-Valley-Erzählung“, dass sich alle Probleme der Menschheit mit Big Data und künstlicher Intelligenz lösen lassen. Vor kurzem habe ich noch in einer Zeitung gelesen, dass die Menschheit durch die Erfolge der Medizin und Biotechnologie „unbesiegbar und unsterblich“ werden soll. Statt dem Ende aller Krankheiten bekamen wir Corona. Dieses weder greif- noch sichtbare Virus hat uns gezeigt, wie zerbrechlich unser Leben in Wirklichkeit ist. Die scheinbare Sicherheit, in der wir uns wägen, bekommt Risse. Krankheit und Tod, bisher an den Rand gedrängt, sind plötzlich wieder mitten unter uns., sie gehören zum Leben dazu und werden der ewige Wegbegleiter der Menschheit bleiben.

Gerade diese Epidemie zeigt uns vor allem eins: Wir müssen Abschied nehmen von der großen Illusion, dass wir alles im Griff haben. Wir wollen alles unter Kontrolle haben, wir wollen die Welt beherrschen, und dann müssen wir plötzlich erkennen, wie begrenzt unsere Möglichkeiten sind und wie wenig wir letztendlich in der Hand haben. Für uns alle ist das eine wirklich existentielle Herausforderung. Vielleicht hatte die Krise einen tieferen Sinn: Sie zeigt, die Gebrechlichkeit und Verletzlichkeit des Menschen, und dass vieles wichtiger ist als die Lebensphilosophie des „Größer, höher, schöner“. Diese Philosophie hat etwas Zerstörerisches an sich!

Wir hatten es niemals wirklich im Griff und unsere Vorhersagen, Pläne, Wünsche und Vorstellungen laufen nur so lange gut, wie das Leben mitspielt, natürlich ohne vorher von uns gefragt worden zu sein. Spielt das Leben mal nicht mit, fällt fast alles von dem, was unseren Alltag ausmacht, in sich zusammen. Es passiert also genau das, was wir jetzt unmittelbar und täglich wahrnehmen müssen: Es läuft nicht so, wie wir es gerne hätten und wie wir es gewohnt sind. Es läuft ganz anders. Wir stellen fest, dass wir in unserem Leben weder das Drehbuch schreiben noch die Regie führen. Diese Erkenntnis verbreitet große Unsicherheit und macht uns sehr deutlich, wie zerbrechlich unsere Lebensentwürfe sind.

Das führt zu Verunsicherungen. In Krisenzeiten gerät unser Urvertrauen ins Wanken. Wir werden unsicher, ängstlich oder sogar panisch. Auf einmal fühlen wir uns bedroht und hilflos den Gefahren des Lebens ausgeliefert. Im Moment befinden wir uns in einer solchen Situation. Umso wichtiger ist es jetzt, das Vertrauen ins Leben nicht zu verlieren und sich nicht von Angstvorstellungen aus ihm herausreißen zu lassen. Wir sollten vor allem nicht permanent alle Horrormeldungen aufsaugen, bis unsere Gedanken nur noch um das eine Thema kreisen. Wenn nur noch Furcht und Schrecken Platz in unserem Kopf haben, ist etwas verkehrt gelaufen.

Krise ist ein produktiver Zustand.
Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.
Max Frisch

Wir hören jetzt wieder häufig den Satz: „Jede Krise beinhaltet eine Chance“. Es stimmt tatsächlich, jede Krise hat zwei Seiten, sie ist eine reale Gefahr, sie ist aber auch immer eine Chance.

Das chinesische Wort für „Krise“ lautet „Weydschi“ und besteht aus zwei Schriftzeichen:

  1. 危 Wey – die Gefahr, und
  2. 機 Dschi – die Chance.

Gefahr und Chance, zwei Seiten derselben Medaille.

In jeder Krise gibt es die Gefahr, dass alles verloren geht, auch das eigene Leben. Die Corona-Krise schafft einen Ausnahmezustand, sie ist eine völlig neue Herausforderung für uns, wir haben keine Vorerfahrung mit Epidemien. Wir können diese Krise nicht mit unseren bisherigen Denk- und Verhaltensweisen bewältigen. Wir können die Krise nur begrenzt steuern und erleben einen weitgehenden Kontrollverlust. Im Verlauf der Krise entwickelte sich deshalb immer stärker ein beklemmendes Gefühl der Unklarheit, Ungewissheit und Unsicherheit. Was wir nicht kennen und nicht kontrollieren können, wird als Gefahr erlebt.

Die Krise ist aber auch tatsächlich eine „Chance“! Nicht im Sinne naiven positiven Denkens, es kann nicht darum gehen, eine schwierige Situation schönzureden. Wir sollten nicht auf jene naiven Positiv Denker hören, die jetzt viele Erwartungen in die Corona-Krise hineindeuten: das Ende der Beschleunigung des Lebens, das Ende des Populismus, das Ende des Egoismus, etc. Bei allem Respekt für diese – zunächst einmal – positiven Wünsche, es wird so nicht kommen.

Es geht mir nicht darum, die Situation schön zu reden. Aber die Corona-Zeit zwang uns dazu innezuhalten, sie warf uns auf uns selbst zurück. Die erzwungene Ruhe kann eine Chance, sie kann ein Geschenk sein, noch einmal abzuwägen, was uns im Leben wirklich wichtig ist. Wir erleben, dass Vieles, was bislang für uns von großer Bedeutung war, vielleicht doch nicht so wichtig ist. Es ist die Chance, unseren bisherigen Lebensstil noch einmal zu hinterfragen. Lebe ich wirklich das Leben, das ich leben möchte? Auch in dieser Krise liegt wieder einmal die Chance für einen Neubeginn.

Zwangspause für eine erschöpfte Gesellschaft.
Heribert Prantl

Vor Corona war das weit verbreitete Gefühl vorherrschend, in einem Hamsterrad zu laufen, dessen Tempo andere bestimmen. Immer mehr Menschen fühlten sich erschöpft und ausgebrannt, weil unser Leben bis ins Kleinste terminiert und getaktet ist, möglichst soll jeder Tag, jede Stunde und jede Minute verplant sein. Nur nicht zur Ruhe kommen, nur nicht zu sich selbst kommen, nur nicht über den Sinn des eigenen Lebens nachdenken.

Und jetzt ganz plötzlich dieser Stillstand. Corona zwang uns, Pause zu machen, das Tempo aus unserem Leben herauszunehmen. Keine langen Arbeitswege mehr, keine Dienstreisen, keine Überstunden. Durch das „Herunterfahren“ unserer Gesellschaft war plötzlich dieser ständige Druck weg. Wir wurden in einen „Sonderurlaub“ geschickt und waren gezwungen zur kollektiven Entschleunigung. Deshalb fühlten viele von uns nach dem ersten großen Schock auch Erleichterung, dass das Leben im Hamsterrad plötzlich zu einem Halt kam. Wir waren froh darüber, dass der Druck des Alltags von unseren Schultern genommen wurde. Wir kamen auch ohne weitreichende Pläne und zahlreiche Aufgaben aus und fühlten uns trotzdem oder vielleicht gerade deswegen sehr lebendig und zufrieden.

Bisher musste laufend etwas in unserem Leben „passieren“, ein Ereignis, ein Event jagt das andere. Wir sind Getriebene, die in der ständigen Angst leben, etwas zu versäumen. „Das moderne Individuum lebt in einer fiktiven ‚Spektakelmentalität‘“, sagte der französische Philosoph Jean Baudrillard.
Ein einfaches Beispiel, um diese Entwicklung zu verdeutlichen: Früher zog man zum „Junggesell(inn)en-abschied“ durch die eigene Gemeinde, später dann in die nächste größere Stadt, noch später mussten es zumindest München, Köln, Hamburg oder Berlin sein. Heute ist es schon fast selbstverständlich, zu diesem Anlass in eine europäische Hauptstadt zu fahren. Wer das für übertrieben hält, sollte sich die Geschenkeorgien zu Weihnachten, Ostern, Kindergeburtstagen, Einschulungsfeiern usw. usw. anschauen. Die Ereignisse müssen immer spektakulärer werden. Wir spüren ständig den Druck, etwas Aufregendes unternehmen oder erleben zu müssen, um mit dem spannenden Leben der anderen mithalten zu können.

In den vergangenen Wochen durften wir endlich aufhören, irgendwelchen Erlebnissen hinterherzujagen. Wir haben ganz praktisch erfahren, dass wir auf vieles verzichten können, was vorher wie selbstverständlich unseren Alltag gefüllt hat. „Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen“, schrieb der Zukunftsforscher Matthias Horx in einem Artikel zur Corona-Krise.

Das jetzt gedrosselte Tempo unseres Lebens, könnte zu einem intensiveren, erfüllteren Leben führen, in größerer Einheit mit unseren Mitmenschen und der ganzen Schöpfung, freilich verbunden mit einer Reduzierung unserer Ansprüche.

Der Sinn des Lebens besteht nicht darin ein erfolgreicher Mensch zu sein, sondern ein wertvoller.
Albert Einstein

Der sogenannte „lock down“ hat uns zur Ruhe gezwungen. In unserer beschleunigten und hektischen Welt wurden wir dazu gezwungen „runter zu fahren“. Plötzlich hatten wir viel Zeit, wieder einmal grundsätzlich über unser Leben nachzudenken. Mit der Ruhe wurde ein neuer Blick auf das Leben möglich.

Die Krise hat uns wachgerüttelt und wieder einmal die Frage nach dem eigenen Wertesystem in den Mittelpunkt des Lebens gestellt: Was ist mir wertvoll, was gibt mir Halt, was lässt mich das Leben erfüllt erfahren? Wie will ich in Zukunft leben? Will ich künftig anders leben, neue Ziele und Werte verfolgen? Will ich Mensch oder Hamster sein?

Was ist uns wirklich wichtig im Leben? Das eigene Haus, die eigene Wohnung, das große Auto, der teure Urlaub, die angesagte Kleidung? Oder Zeit für Partner/in, Kinder, Familie und Freunde? Es spricht nichts gegen persönlichen Wohlstand, aber wir sollten aufhören uns über unsere Eigentumswohnung, unser Auto, unsere modische Bekleidung, über unseren gesellschaftlichen Status zu definieren. Es geht in diesem kurzen Leben nicht um unseren Besitz. Wenn alles zusammenbricht, bleiben die Bande der Ehe, der Familie und der Freundschaft.

Bisher waren unsere wesentlichen Werte „Arbeit, Konsum und Vergnügen“, jetzt fragen sich viele wieder, ob das Leben nicht doch mehr Sinn haben sollte. Wenn die alten Werte fragwürdig geworden sind, ist Raum für etwas Neues. Jetzt ist es Zeit, sich auf das Wesentliche im Leben zu besinnen. Und dass ist mehr als Arbeit, Konsum und Spaß. Es geht um ein grundlegend neues Wertebewusstsein.

Corona ist kein Virus, dass die Welt besser macht,
sondern eines, dass die Welt schlechter machen kann.
Matthias Iken

Die Corona-Krise hat uns wieder einmal gezeigt: Unsere Lebensweise ist längst gegen die Wand gefahren. Unser aller Leben bedarf einer grundlegenden Erneuerung. Wir müssen uns Gedanken machen über die Grenzen des Wachstums, die jetzige Form der Globalisierung, den weltweiten Massen- und Virentourismus und vieles andere mehr.

Viele hoffen, dass wir in der „Zeit nach Corona“ anders an das Leben herangehen. Manche wagen es bereits, von einer Chance für einen neuen Lebens- und Wirtschaftsstil, ein neues Miteinander zu sprechen. Einige kündigen sogar einen Bewusstseinswandel an.
Werden wir Menschen aus dieser besonderen Situation lernen? Wird sich unser Leben nach der Krise wirklich verändern? Wird ein Virus ausreichen, um uns Menschen aufzuwecken, damit wir achtsamer mit uns selbst, mit unseren Mitmenschen und der Natur umgehen? Wird die Corona-Epidemie unsere Welt nachhaltig verändern?

Ich persönlich würde es sehr begrüßen, wenn wir diese Krise als einen Weckruf zur Änderung unserer Lebensweise verstehen würden. Die Krise könnte eine Chance sein, um einen längst überfälligen Reinigungsprozess auszulösen! Ich vermute allerdings, dass das eher nicht geschehen wird. Die Kräfte, die das alte System vertreten, werden mit all ihren Kräften und Möglichkeiten auf den Plan treten, um die alten Zustände möglichst schnell wiederherzustellen. Sie werden versuchen, wieder zur Tagesordnung einer rasanten globalen Wachstumspolitik überzugehen.
Ich erwarte auch nicht, dass sich das Verhalten vieler Menschen durch die Corona-Krise ändern wird. Die absolute Mehrheit aller Menschen möchte so schnell wie möglich zu ihrem Leben vor der Krise zurück. Sie wollen die Komfortzone, in der sie sich eingerichtet haben, um keinen Preis verlassen.
Die Krise macht uns in dem Moment, wo wir mittendrin stecken, vielleicht bewusster für die notwendigen Veränderungen, doch wenn die Krise vorbei ist und wir nicht wach bleiben, holen uns unsere alten Muster schnell wieder ein. Ich erinnere mich noch an den sogenannten „Rinderwahnsinn“, eine existentielle Krise unserer Lebensweise. Überall war der Schwur zu hören, künftig viel weniger, oder gar kein Fleisch mehr zu essen. Nach der Krise wurde in Deutschland so viel Fleisch konsumiert wie niemals zuvor!

Das jetzt gedrosselte Tempo unseres Lebens, könnte zu einem intensiveren, erfüllteren Leben führen, in größerer Einheit mit unseren Mitmenschen und der ganzen Schöpfung, freilich verbunden mit einer Reduzierung unserer Ansprüche.

Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer.
Xavier Naidoo

Wir befanden uns bereits vor der Corona-Krise in einer Umbruchsituation, die alte Ordnung funktioniert schon lange nicht mehr so richtig. Aber weil diese alte Ordnung – trotz aller Probleme – einmal Halt, Sicherheit und Orientierung geboten hat, werden viele die alte Ordnung um jeden Preis verteidigen wollen. Statt wirklicher Veränderung werden sie vor allem versuchen, das alte System durch zahlreiche Reparaturmaßnahmen zu retten. Sie wollen an Symptomen arbeiten, nicht an den Ursachen. Elektroautos statt Verbrennungsmotoren sind ein Stichwort für diese Denkweise. Jeder selbständig denkende Mensch weiß aber, dass das nicht ausreichen wird unsere Lebensgrundlagen zu erhalten. Wir müssen über eine grundsätzliche Veränderung unserer Lebensweise sprechen. Das möchten aber noch zu wenig Menschen hören.

Die Widersprüche in unserer Gesellschaft werden deshalb in den nächsten Jahren beschleunigt zunehmen, es wird vieler Auseinandersetzungen bedürfen, bis es letztendlich eine tiefgreifende Veränderung in unserer Gesellschaft geben wird. Die notwendigen Veränderungen werden nicht auf einem Sonntagsspaziergang zu erreichen sein. Veränderungen gehen immer mit Spannungen und großen Herausforderungen einher. Wir stehen am Anfang von etwas Neuem, das aber noch längere Zeit für seine Entwicklung brauchen wird

Wir haben gelernt, schneller zu schlafen,
nebenbei zu essen und viel produktiver zu arbeiten,
aber wir haben verlernt, in Balance zu leben.
Cay von Fournier

Im Coaching ist es das Dauerthema: Die sogenannte Work-Life-Balance. Sie ist bei den meisten Menschen schon lange nicht mehr im Gleichgewicht. Meine Klienten arbeiten in der Regel sehr viel, müssen teilweise lange Wege zu ihren Arbeitsplätzen zurücklegen, haben oft zu wenig Zeit für Partner, Kinder, Freunde oder Hobbys.

Plötzlich saßen sehr viele von uns in ihrem Homeoffice und mussten die Nähe mit Partnern und Kindern nicht nur stunden-, sondern Tage- und Wochenweise „aushalten“. Für die einen eine sehr bereichernde Erfahrung, für andere eine kaum auszuhaltende Belastung. Die einen freuten sich darüber, endlich mehr Zeit mit Partner/in und Kindern zu verbringen, die anderen wollten so schnell wie möglich wieder aus dieser scheinbaren „Familienidylle“ ausbrechen. Viele Eltern haben gestöhnt unter der „Doppelbelastung“ von Kindern und Homeoffice. Andere Eltern waren froh, endlich mal mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können.

Durch die Kontaktsperre mussten wir es aber nicht nur mit unserer Familie aushalten, sondern vor allem mit uns selbst, wir wurden auf uns selbst zurückgeworfen. Wir waren plötzlich mit Ruhe und Einsamkeit konfrontiert. Einige nutzen es als Chance, sich endlich dem guten Buch zu widmen, das schon lange auf dem Nachttisch lag, oder nahmen sich endlich mal wieder Zeit für das lange vernachlässigte Hobby. Die erzwungene Pause gab uns die Chance, uns selbst wieder neu kennenzulernen, ein Stück weit wieder zu uns selbst zurück zu finden. Wir hatten endlich mal wieder genügend Zeit darüber nachzudenken, wie sich ein anderes, vielleicht besseres Leben gestalten ließe. Der Rückzug auf uns selbst zeigte uns neue Wege auf, die es jetzt zu gehen gilt.

Andere versuchten diese Einsamkeit zu verdrängen, indem sie durch alle Fernsehkanäle zappten oder alle möglichen Serien auf diversen Streamingdiensten schauten.

Einst lebten wir auf dem Land, dann in Städten
und von jetzt an im Netz.
Marc Zuckerberg

Statt nach innen zu gehen und über sich selbst und die momentane Situation nachzudenken, flüchteten erschreckend viele Menschen in die sogenannte virtuelle Welt. Fernseher, Computer, Smartphones, Videospiele und dergleichen füllten die freie Zeit während der Corona-Krise. In fremde Welten eintauchen, die Realität vergessen und dabei Spaß haben. Das versprechen uns diverse Medien mit ihren Streaming-Diensten und die Virtual-Reality-Systeme der verschiedenen Hersteller. Diese Medien versetzen uns in eine andere Welt und lenken uns ab, damit wir die eigene innere Unsicherheit und Leere nicht spüren. Ich glaube aber nicht, dass es auf Dauer reicht, sich abzulenken, um sich der eigenen Realität nicht stellen zu müssen. Wenn wir uns selbst nicht mehr spüren, wenn wir uns unseren Themen nicht mehr stellen, gibt es nur noch die psychische Erkrankung als Ausweg.

Virtuelle Welten sind künstlich geschaffene Umgebungen, die von den Nutzern jedoch als Realität wahrgenommen werden. Das liegt schlichtweg daran, dass unser Gehirn keinen Unterschied macht zwischen biologischer und virtueller Realität. Weil virtuelle Welten so real wirken, verändern sie auch unsere Psyche.

Wer aus der äußeren Welt in eine imaginäre Welt flüchtet, also eine Scheinwirklichkeit bevorzugt, wird zunehmend weniger Interesse an der äußeren Welt und den dort lebenden Menschen haben. Diese Flucht in eine virtuelle Welt – in der Fachsprache Eskapismus genannt – stellt damit ein gesellschaftliches Problem dar. Die Nutzer dieser Medien führen zunehmend ein isoliertes und wenig soziales Leben.

Es geht mir nicht darum die digitale Welt zu verteufeln, sie hat uns auf jeden Fall sehr viele neue Möglichkeiten eröffnet. Gleichzeitig muss man aber sehen, dass die Anbieter dieser neuen Medien bewusst erreichen wollen, dass sich immer mehr Menschen auf die virtuelle Realität beschränken. Wir sollen in diese „Scheinwelt“ völlig eintauchen, um uns den Themen der realen Welt nicht zu stellen. Während der Corona-Phase ist dieser Ansatz bereits erschreckend erfolgreich gewesen. Das wird sich unweigerlich auf das Selbstbild, die Denkweise und den Lebensstil vieler Menschen auswirken.

Ein kurzes Fazit

Sollten wir jetzt möglichst schnell wieder ins Rennen einsteigen, einfach durchstarten und weiter geht es? Wieder alles detailliert durchplanen, den Rest des Jahres, die Monate, die Wochen, die Tage? War es also doch nur ein kurzer „Boxenstopp“?

Oder sollten wir versuchen, die positiven Erfahrungen dieser Zeit in unseren Alltag zu übertragen? Allen Sorgen, Befürchtungen und Ängsten zum Trotz, hatten wir doch auch viele Momente, Stunden oder ganze Tage, wo wir froh darüber waren, über unsere Zeit frei verfügen zu können. Niemand wollte was von uns. Die Mails wurden zunehmend weniger. Das Handy schwieg über längere Phasen. Keine verschwendete Zeit in unsinnigen Meetings. Wir konnten feststellen, dass Pläne, Termine und Aufgaben doch nicht so lebensnotwendig waren, wie wir es vorher gedacht haben.

Wir stehen jetzt wieder in den Startlöchern. Aber wir sollten jetzt neu entscheiden, ob wir an diesem Rennen erneut teilnehmen wollen. Vielleicht ist es gar nicht so sinnvoll, als erster durchs Ziel gehen zu wollen. Vielleicht ist es viel sinnvoller, etwas langsamer durchs Leben zu laufen, dafür aber mehr Zeit fürs wirkliche Leben zu haben.

Inzwischen sprechen viele Menschen davon, dass sie gar nicht mehr wollen, dass alles wieder so wie vorher wird. Sie wollen die positiven Erfahrungen der Krise – z. B. mehr Zeit für die Familie zu haben – in ihr Leben integrieren. Diese Zeit ist eine ganz einzigartige Gelegenheit das eigene Leben zu verändern.
Wer Veränderung in der Welt sehen will, hat keine andere Chance, als bei sich selbst anzufangen. Andere Menschen und die Umstände können wir nicht ändern. Unser eigenes Denken, Fühlen und Handeln aber schon. Der Wandel, den wir uns wünschen, kann nur durch uns selbst geschehen. Ich wünsche Ihnen persönlich den Mut und die Kraft, die guten Vorsätze der Krisenzeit in die Realität umzusetzen.

Wie kann man Menschen dazu bringen, ihr Verhalten zu verändern?
Bisher haben wir immer gedacht, dass wir Menschen von außen dazu bringen können, ihr Verhalten zu ändern. Doch noch nie sind die Leute mit solchen großen Autos umhergefahren, noch nie waren die landwirtschaftlichen Nutzflächen so ausgebeutet und noch nie ist so viel Plastikmüll in den Meeren geschwommen. Also heißt das doch, dass unsere bisherigen Strategien nicht funktioniert haben. Wenn es also nicht von außen geht, muss es von innen gehen. Wir müssen uns fragen: Was im Menschen kann man wachrufen und stärken, damit er aufwacht und sich anders verhält? Wir müssten ein bestimmtes Bild von uns selbst haben und feststellen, dass dieses Bild nicht mit dem übereinstimmt, wie wir tagtäglich handeln. Durch dieses Missverhältnis ginge es uns nicht gut. Und dann würden wir versuchen, unser Verhalten an das Bild von uns selbst anzupassen. Vorausgesetzt ist, dass wir ein starkes Bild von uns haben, denn sonst kann man dieses Bild in die Ecke legen und sagen „das interessiert mich nicht“. Das stärkste Bild, das ich für solche Fälle gefunden habe, ist die Vorstellung von der eigenen Würde.

Gerald Hüther